Infraschall - Geißel der Anwohner
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- Hauptkategorie: Krankheit
- Kategorie: Infraschall
- Erstellt am Samstag, 23. März 2013 00:43
- Zuletzt aktualisiert am Montag, 22. Juli 2013 12:33
- Veröffentlicht am Samstag, 23. März 2013 00:43
- Geschrieben von Jutta Reichardt
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Untersuchungen mit hochsensiblen Mikrofonen von Prof. Krahé in NRW
Nachtkonzert
Das geheime Schwingen der Städte
Auf der ganzen Welt bringt ein tiefer Bass Menschen um den Schlaf – insbesondere in Metropolen, die im Rhythmus der Klimaanlagen schwingen. Forscher sind dem Phänomen auf der Spur und lernen: Unser Gehör ist leistungsfähiger als bislang angenommen.
Nachts, wenn in den Metropolen dieser Welt der dröhnende Verkehr verstummt, die wummernden Baustellen schweigen und das pulsierende Straßenleben erstirbt, fallen die meisten Menschen in tiefen Schlaf. Andere hingegen wälzen sich gequält in ihren Betten.
Schlaflos in den Städten: Von San Francisco bis Auckland, von Sydney bis Calgary, aber auch in Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet mit seinen fünf Millionen Einwohnern – überall auf der Welt hören zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung nachts ein tiefes Brummen, das sich in ihren Kopf fräst wie ein Bohrer. Sie spüren unangenehmen Druck im Ohr und im Kopf, manche auch Schwingungen im Körper oder starke Beklemmungen bis hin zu Atemnot. Die Ursache des mysteriösen Nachtkonzerts hat für Betroffene längst einen Namen: Infraschall. Doch wieso können sie tiefe Schallfrequenzen bis unter 20 Hertz wahrnehmen, die in der Akustik als unhörbar gelten? Und kann Infraschall wirklich gesundheitsschädliche Symptome hervorrufen?
Am Stadtrand zwischen Dortmund und Bochum kehrt in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 2011 Heike Meier[Name geändert] in ihr Haus zurück, das sie ein Jahr zuvor fluchtartig verlassen hat, um dem Brummton zu entkommen. Professor Detlef Krahé von der Bergischen Universität Wuppertal hat ihr Doppelbett auf Kopfhöhe mit einem Mikrofon ausgerüstet, das bis fünf Hertz tief sensibel ist, und es an ein Schallpegelmessgerät angeschlossen. Parallel führt die Betroffene ein Lärmprotokoll, in dem sie vermerkt, wann der tiefe Ton sie in welcher Intensität belästigt. Den Professor für Nachrichtentechnik treibt wissenschaftliche Neugierde in das private Schlafzimmer: Ist messbar, was die Lehrerin hört? Und wenn ja: Wann tauchen die Geräusche auf und mit welchen Pegeln?
Tieftonmikrofone
0,1 Hertz ist die untere Grenzfrequenz, die ein Hochfrequenzmikrofon messen kann. Professionelle Sennheiser-Mikrofone der MKH-Serie arbeiten nach diesem Verfahren, das heute nur noch von Sennheiser verwendet wird. Es ermöglicht, Messgeräte für extrem tiefe Frequenzen zu bauen. So entstand in den 1960er-Jahren das Tieftonmikrofon MKH 110, mit dem der Akustiker Volker Mellert Infraschallquellen aufspürt. Seine untere Grenzfrequenz liegt bei einem Hertz. Das Schwestermodell MKH 110-1 erreicht sogar 0,1 Hertz.Die 59-jährige Lehrerin mit dem dunklen Lockenkopf hatte sich 2005 ein Reihenhaus mitten im Ruhrgebiet gekauft. Mitte September 2007 schreckte sie nachts plötzlich aus dem Schlaf hoch, da hörte sie es zum ersten Mal: „Wummwummwumm“, brummt sie mit tiefer Stimme, „als würde ein Lkw mit laufendem Motor vor dem Haus stehen.“ Zudem spürt sie Vibrationen, die ihr durch Mark und Bein gehen. Tagsüber wird der lästige Basston manchmal schwächer. Nur wenn sie ihr Haus verlässt, verschwindet er. Seltsam: Die anderen Bewohner des Hauses bemerken davon nichts.
Heike Meier lässt systematisch die gesamte Haustechnik überprüfen. Nichts. Erst ein Baubiologe äußert den Verdacht: „Infraschall“. Mit ausgestrecktem Finger zeigt die Lehrerin durch ihre Fensterfront: „Da steht es, das Corpus Conflicti.“ Die Lagerhalle sei im Sommer 2007 mit einem neuen Kühlsystem ausgerüstet worden, damals hätten die grässlichen Töne und körperlichen Beschwerden begonnen. Im Februar 2010 hält sie es nach monatelanger Schlaflosigkeit nicht mehr aus. Sie flieht aus ihrem Haus, kommt nur noch gelegentlich zum Blumengießen zurück – oder zu den Messungen von Krahé.
Ob in Deutschland, Dänemark oder Kanada, weltweit haben sich Menschen, die Brummtöne hören, zusammengeschlossen. Sie gründen Vereine, Bürgerinitiativen und Internetforen, holen Umweltbehörden und Wissenschaftler ins Boot und dokumentieren den Stand der Forschung. Sie wollen ihr Leiden beenden und nicht länger als Spinner hingestellt werden, weil sie etwas hören können, was die meisten Menschen nicht wahrnehmen. Die leidgeprüften Bewohner der Kleinstadt Taos in New Mexico hatten in den Neunzigerjahren sogar erreicht, dass sich der US-Kongress mit den lästigen Tönen beschäftigte, die als „Taos Hum“ in die Fachliteratur eingingen. Die Ursache wurde nie gefunden: „Das ist, wie einen Kriminalfall zu lösen“, beschreibt Krahé die schwierige Fahndung nach Verdächtigen, die als Verursacher infrage kommen.
Krahé hat seine Messungen bei Heike Meier ausgewertet: „Bei Schwingungen um 20 Hertz und um 40 Hertz kann ich bei einem Pegel von 33 Dezibel deutliche Spitzenwerte erkennen“, erläutert er, „aber auch unterhalb von 20 Hertz sind Geräuschanteile vorhanden.“ Geräusche? Eigentlich gelten Frequenzen unter 20 Hertz als unhörbar. Führen die offiziellen Richtwerte also in die Irre? Krahé fügt mit einem leisen Seufzen hinzu: „Alle Werte liegen deutlich unter der Wahrnehmungsschwelle nach der Infraschall-DIN 45680.“ Akustiker an der Universität im dänischen Aarlsborg kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie Krahé. Sie messen die Wirkung von Infraschall auf den Menschen seit Jahren in ihrer Infraschalldruckkammer. Das überraschende Ergebnis, das viele andere internationale Studien und Experimente bestätigen: Die Wahrnehmung des Menschen geht unterhalb der bislang definierten Hörschwelle von 20 Hertz weiter. Sensible Menschen können bei hohen Pegeln sogar Frequenzen von wenigen Hertz spüren. Das ist in etwa so, wie man bei offenem Fenster in einem fahrenden Auto das Flattern wahrnimmt. Unter 20 Hertz gibt es zwar keine Tonhöhenempfindung mehr, Schallempfindung hingegen schon. Zumindest für manche Menschen. Trotz aller Studien bleiben viele Fragen offen. Vor allem die gesundheitlichen Auswirkungen von Infraschall sind noch nicht ausreichend erforscht.
Was also unterscheidet Infraschall von Lärm mit höheren Frequenzen? Akustikprofessor Volker Mellert von der Universität Oldenburg forscht seit den Achtzigerjahren auch zu Infraschall und erklärt: „Besonders bei ganz tiefen Frequenzen ist die Wahrnehmungsschwelle zwischen gerade noch hören und sehr laut hören ausgesprochen klein, anders als bei höheren Frequenzen. Deshalb können gerade Frequenzen im Infraschallbereich schnell als erhebliche Störung empfunden werden.“ Die Wirkung, die tiefe Frequenzen auf den Körper haben können, hat Mellert am eigenen Leib erfahren: Er und sein Team hatten sich in ihrem schalltoten Raum mit einem Tieffrequenzlautsprecher mit fünf Hertz beschallt. Alle spürten ein unangenehmes Druckgefühl und rannten schnell aus dem Raum, weil ihnen fürchterlich schlecht wurde, einige waren kurz davor, sich zu übergeben. Künstlicher Infraschall ist störender als natürlicher, davon ist Mellert überzeugt. Demnach erzeugen Maschinen „isolierte, monofrequente, sinusartige tiefe Druckschwankungen“, die sehr unangenehm sind. Natürlichen Infraschall hingegen, also niedrigfrequentes Meeres- oder Windrauschen, beschreibt Mellert als breitbandiger – einfach angenehmer.
Die bis zu 300 Meter langen Infraschallwellen breiten sich über weite Distanzen relativ ungehindert aus und werden – anders als hochfrequenter Lärm – nicht durch Luft oder Schalldämmung absorbiert: „Sie gehen ungedämpft durch Glasscheiben wie ein heißes Messer durch Butter“, beschreibt es Professor Krahé. Wie sich bei Infraschallwellen hoher Schalldruck aufbauen kann, demonstriert Krahé in einem Versuchsraum. Dort schließt er seinen Sennheiser-Subwoofer KH 870 an und lässt ihn 20 Hertz tiefe Frequenzen in den 36 Quadratmeter großen Raum senden. Schnell bildet sich, was Akustiker eine „stehende Welle“ nennen: In den Ecken schnellt der Pegel plötzlich um mehr als 20 Dezibel in die Höhe. Die großen Infraschallwellen können in geschlossenen Räumen viel höhere Druckpegel erreichen als im Freien.
So kann das Schlafzimmer zur Druckkammer werden, bestätigt Akustikexperte Rüdiger Borgmann, Verfasser eines Infraschallleitfadens. „Besonders Städte sind durch ihre Geometrie empfänglich für Infraschall. In Straßenschluchten mit sehr hohen, schallharten Gebäudefassaden kann eine stehende Welle entstehen.“ Künstliche Quellen für Infraschall gibt es in Metropolen zuhauf: Nahezu jedes hohe Büro- und Wohngebäude, Hotel oder Krankenhaus ist mit Klima- und Lüftungsanlagen oder Pumpen ausgestattet. Hinzu kommen der Flug- und Schienenverkehr, U-Bahnen, Wärmekraftwerke sowie all die maschinenbetriebenen Nutzgeräte in Betrieben. „Mit dem Fortschritt der Technik wird auch der Infraschall zunehmen“, sagt Borgmann. Infraschall steht in Wechselwirkung mit den Festkörperschwingungen von Kühlanlagen und Maschinen, deren Vibrationen auch Luftschall unter 20 Hertz abstrahlen können. Einige Forscher vermuten, dass sich beide sogar verstärken.
Der Oldenburger Akustiker Mellert hat in der Vergangenheit wiederholt Klimaanlagen in Großraumbüros gemessen. Dort erzeugten die langen Lüftungskanäle und Schächte hoher Gebäude oft Resonanzen, die denen von Orgelpfeifen bei tiefen Registern ähnlich sind und eine stehende Welle ausbilden. „Da konnten wir mit dem Sennheiser-Hochfrequenz-Kondensatormikrofon MKH 110 Schallwellen unter zehn Hertz messen“, sagt Mellert. Ob sich eine solche stehende Welle auch in Straßenschluchten bilden könne, bezweifelt er: „Dazu fehlen Studien.“
Im Ruhrgebiet arbeitet indes Professor Krahé weiter an der Aufklärung seiner Infraschallkriminalfälle: Als Nächstes will er ein winziges Mikrofon, das Sennheiser MKE-1, dicht am Ohr von Heike Meier platzieren. Damit hofft er, die tieffrequenten Geräusche besser identifizieren zu können, von denen die Betroffenen berichten. Krahé hat immer neue Ideen für seine Fahndung: Vielleicht liegt der Schlüssel im Gehirn. In seinem Schallraum läuft deshalb eine Versuchsreihe, die per EEG klären soll, ob Infraschall die Hirnströme verändert. Damit könnte er zeigen, dass Infraschall sich auch auf Menschen auswirkt, die den Brummton gar nicht hören – und endgültig beweisen, dass das Schwingen der Städte kein Hirngespinst ist.